Die Medikalisierung des schulischen Misserfolgs. Analysiert wird im Artikel die Abhangigkeit der wissenschaftlichen Diskurse und medizinischpsychologischen Pratiken, deren Gegenstand das geistig zuruckgebliebene Kind ist, von ihren gesellschaftlichen Produktionsbedingungen. Das gegen Ende des 19.Jahrhunderts zu beobachtende Auftreten neuer Figuren «anormaler Kinder» — das labile und das zuruckgebliebene Kind — ist direkt gekoppelt an den durch die Schulpflicht inaugurierten massenhaften Eintritt von Kindern aus den untersten Fraktionen der Volksklassen in die schulischen Einrichtungen. Fruhe Spezialisten der Psycho-Padagogik erarbeiten die jene «anormalen Schuler» charakterisierenden wissenschaftlichen Vorstellungen und drangen daruberhinaus zur Schaffung spezialisierter, ihrer Ubernahme angepaster Strukturen. Das Projekt findet seinen erfolgreichen Niederschlag in einem Gesetz von 1909, das die Einrichtung von Fortbildungsklassen vorsieht (classes de perfectionnement). Der juristische Sieg bleibt freilich in der ersten Halfte dieses Jahrhunderts ohne weitere institutionelle Auswirkungen. Erst unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs und einhergehend mit der Einrichtung eines Systems vielfaltiger Institutionen zwecks Ubernahme verschiedener Gruppen unangepaster (krimineller, schwererziehbarer, schwer—, mittel— und leichtdebiler) Kinder entwickeln sich auch die Fortbildungsklassen, wobei sie sich dabei allerdings auf die alleinige Erziehung der «Zuruck-gebliebenen» (gemas der neuen Nomenklatur zu den Leichtdebilen geworden) spezialisieren. Das Feld der unangepasten Kinder, polarisiert um verschiedene, hinsichtlich der Angemessenheit ihrer jeweiligen Vorstellung von Unangepastheit und der Zweckmasigkeit spezifischer therapeutischer Praktiken sich zuweilen befehdende Spezialisten-gruppen (Padopsychiater, Mediziner der psychiatrischen Krankenhauser, Kinder-Psychoanalytiker, Psychologen, spezialisierte Lehrer) wird bis in die ausgehenden sechziger Jahre von den Pado-psychiatern dominiert, die in den neugegrundeten Institutionen auserhalb des nationalen Erziehungs-wesens (Kinder— und Jegendschutz, medizinisch-padagogische Institute, Reedukationszentren fur schwererziehbare Kinder) die Schlusselpositionen innehaben. Ihr Wort ist Gesetz, ihr Diskurssetzt die Eingriffsbereiche der anderen Spezialisten fest (den Psychoanalytikern werden die Leichtgestorten uberantwortet, den Anstaltsmedizinern wird nur die Obhut uber die am schwersten Geistesgestorten gelassen). Innerhalb der von den Padopsychiatern entwickelten neuen Vorstellungen in bezug auf Unangepastheit sind, zu einem eklektizistischen Diskurs vermengt, Elemente der verschiedensten Disziplinen integriert (Genetik, Experimental-psychologie, genetische Psychologie, Psychoanalyse) und zwar derart, das sich, auf «wissenschaftliche» Fundamente gestutzt, eine Kausalbeziehung zwischen Unangepastheit und Delinquenzgefahrdung ableiten Iast. Die geistesschwachen Kinder werden nicht mehr auf der Ebene ihrer intellektuellen Defizienz charakterisiert, sondern als «global defiziente Personlichkeiten» (intellektuelle,psychomotoeische, affektive Zuruckgebliebenheit, Unfahigkeit zu abstraktiver Leistung), deren vorherrschendes Merkmal psychische Labilitat ist. Bedroht durch das sie umgebende soziale Milieu, werden die geistig schwachen Kinder gerade weil sie zuruckgeblieben sind als «moralisch gefahrded» angesehen. Zwar uben die Padopsychiater auch heute noch in bestimmten Institutionen des Feldes einen bestimmenden Einflus aus, sind die von ihnen entwickelten Vorstellungen in weiten Teilen des institutionellen Systems (besonders im Lehrkorper) noch verbreitet ; ihre dominante Stellung ist dennoch seit Ende der sechziger Jahre durch einen um die Psychoanalyse zentrierten neuen Pol in Frage gestellt. Durch Kritik des Begriffs der Debilitat und des chronisch machenden Charakters der spezialisierten Padagogik versuchen die Psycho-analytiker, sich aus der Nebenstellung zu befreien, die ihnen bislang zugewiesen war. Indem sie nun die geistige Zuruckgebliebenheit theoretisch dem Bereich der Psychoneurosen zuschlagen, schlagen sie zugleich die zuruckgebliebenen Kinder der potentiellen Klientel der Psychotherapien zu, die sie innerhalb ihrer Institutionen praktizieren (CMPP, Tages-hospitaler). Damit treten sie in direkte Konkurrenz zu den Padopsychiatern, in deren Hand bisher das Monopol uber die — von den Vatern des Psychoanalyse im ubrigen als unanalysierbar eingeschatzte — Klientel der geistig Zuruckgebliebenen lag. Der Konflikt zwischen Psychoanalytiker und Padopsychiater scheint sich nun zugunsten des ersteren aufzulosen, insofern die staatlichen Machtinstanzen in den offiziellen Texten auf die nosographischen Kategorien des modernen psycho-analystischen Diskurses zuruckgreifen und damit die der Padopsychiater der Tradition anheimgeben. So wird der Begriff der geistigen Debilitat durch den der Psychoneurose mit Defizitarseite ersetzt — freilich losen die Analytiker hier die Padopsychiater nur ab in der psychologischen Umsetzung eines genuinen sozialen Phanomens wie dem schulischen Scheitern der Kinder aus den Volkslassen, Produkt der Kluft zwischen der Kultur des Familienmilieus und der herrschenden kulturellen Willkur. Die Analytiker indessen ersetzen nicht nur die Neuro-psychiater, sie erweitern daruberhinaus kraft ihrer therapeutischen Praktiken die soziale Kontrolle des fraglichen Feldes, insoweit sie, getreu ihrem theoretischen Verstandnis, die bestimmenden Grunde fur das Scheitern des Kindes in der Schule allein in der symbolischen Okonomie des Familienkerns zu suchen verleitet werden. Vom schulischen Miserfolg als Leidensymptom des Kindes geht es weiter zum Kind als Symptom eines familialen Leidens — womit denn kraft dieser institutionellen Dynamik unmittelbar in die Familie eingegriffen werden mus. Eine massive psychotherapeutische Einvernahme der kulturell schwachsten Familien gewinnt immer mehr an Boden. Gleichzeitig mit der Psychoanalyse der Armen setzt sich die Macht der Analytiker im Feld der unangepasten Kinder durch — wo sie freilich noch immer auf gewisse Barrieren stost, deren geringste nicht zuletzt das Ausweichen der Familien aus den untersten Volksklassen vor den Fragen des Analytikers ist.