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Über das Nachleben eines mittelalterlichen Kanonmodells
- Source :
- Die Musikforschung. 7:54-57
- Publication Year :
- 2021
- Publisher :
- Sachsische Landesbibliothek, Staats- und Universitatsbibliothek Dresden, 2021.
-
Abstract
- Der fruhzeitliche und mittelalterliche Ursprung vieler der in den letzten zwei Jahrhunderten aufgezeichneten Volkslieder konnte mittels vergleichender Melodienforschung und volkskundlicher Quellenkritik seit neuestem nachgewiesen werden. Belege jedoch fur das Nachleben alter, schon bei Volkern niederer Kulturstufe vorkommender Kanonmodelle bis in die Gegenwart fehlten bislang. Erst Walter Wiora untersuchte in seinem Luneburger Referat von 1950 uberschauend das grose Feld des „mittelalterlichen Liedkanons" und stellte die damals gelaufigen Haupttypen dieser Gattung heraus1. Eines der bekanntesten und allenthalben vorkommenden Modelle, das mehr ist als ein Schema, ist gekennzeichnet durch regelmasig tektonische, plastische Oktavmelodik in Zweitaktgruppen mit Binnenkadenz auf der Quint. Oft auftaktlos, mit straffem, federnd bewegtem Rhythmus erbluhte diese offenbar besonders im franzosischen Liede des 12. und 13. Jahrhunderts, von wo aus sie auch in fast alle Zweige der Hochkunst drang (Melodietafel Bsp. la und b). Das dieser grosraumigen, fallenden Melodik ein hohes Alter zuzusprechen ist, erweisen besonders die vielen ausereuropaischen Liedparallelen2. Wie bei den meisten in Schwunglinie und tonalem Verlauf den Modi gegenuber neutralen Melodietypen des Mittelalters gibt es zu der am haufigsten begegnenden Durstruktur auch eine entsprechende dorische oder Mollstruktur. Hingewiesen sei lediglich auf den im 14. Jahrhundert aufgezeichneten dorischen „Martinsradel" und den Weihnachtstropus in Liedkanonform „Universi popuH"3, sowie die in der Melodietafel mitgeteilten Beispiele. Als typische, geschichtlich lebendige Melodiegestalt mit naturhafter Rationalitat in Rhythmus und Form insonderheit zu springlustigen Tanzliedern im Mittelalter gebrauchlich (Nr. lc und d), erfuhr diese ihre strengste Ausformung in der Verwendung als Kanonmodell, Gewachsenes und Geschaffenes vereinigend. In beiden Auspragungen lebt sie bis in die Gegenwart nach. Die Fortdauer dieses Typus ging nicht nur uber das Kirchenlied (Nr. ld und 2b), Tanzund Kinderlied (Nr. lc, 2a und c) sowie den Gesang zur Tischrunde (Nr. la und g) in der schriftlosen Tradition des Volkes vonstatten, sondern auch in einem die Musikgeschichte kontinuierlich durchziehenden Strang mehr oder weniger kunstvoller Kanonwerke von Martin Agricola uber M.Pratorius, E.Sartorius, Joh. Dussek, F. Mendelssohn bis zu Armin Knab4. Das alte Weihnachtslied war oft in Kanonform als eine Verklarung des Grundmenschlichen hierbei einer der wichtigsten Traditionstrager. Es wird selbstverstandlich weniger an das Fortleben individueller Melodien gedacht, als vielmehr an das einer einfachen polygenetisch entstehbaren Form mit im wesentlichen gleichbleibendem Melodieverlauf. Diese durch sieben Jahrhunderte verfolgbare Wandlung eines Liedund Kanontypus wirft Licht auf die
- Subjects :
- Music
Subjects
Details
- ISSN :
- 00274801
- Volume :
- 7
- Database :
- OpenAIRE
- Journal :
- Die Musikforschung
- Accession number :
- edsair.doi...........eecbfe1295475b95fdfad54795817a7a
- Full Text :
- https://doi.org/10.52412/mf.1954.h1.2682