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Therapie mit Mistelextrakten bei Patientinnen mit Mammakarzinom als Ergänzung zur konventionellen Krebstherapie im Vergleich zur konventionellen Krebstherapie allein. Medizinische Wirksamkeit und Sicherheit, Kosten und Kosteneffektivität, Patienten- und soziale Aspekte, ethische Bewertung

Authors :
Schnell-Inderst, Petra
Steigenberger, Caroline
Mertz, Marcel
Otto, Ilvie
Flatscher-Thöni, Magdalena
Siebert, Uwe
Publication Year :
2021
Publisher :
BfArM, 2021.

Abstract

Hintergrund: Bei Frauen steht Brustkrebs sowohl bei den Krebssterbefällen mit 18.736 Todesfällen (Jahr 2016) als auch bei den Krebsneuerkrankungen an erster Stelle. Bei der Behandlung von Brustkrebs kommt in Abhängigkeit vom Tumorstatus neben der Operation unter anderem auch die Chemotherapie zum Einsatz. Sie ist in der Regel mit Nebenwirkungen wie z. B. Durchfall, Müdigkeit, Haarausfall, Fieber oder Störungen der Blutbildung verbunden. Dies beeinträchtigt die Lebensqualität der Patientinnen während der Behandlung maßgeblich. Mistelpräparate werden zur begleitenden Behandlung von Krebserkrankungen in Deutschland eingesetzt. Ein wesentliches Behandlungsziel ist es, die gesundheitsbezogene Lebensqualität während der Therapie zu verbessern, die aufgrund der Toxizität der Chemotherapie eingeschränkt ist. Die begleitende Misteltherapie wird der komplementären beziehungsweise der integrativen Medizin zugeordnet. Die biochemischen Wirkmechanismen der Mistelpräparate werden auf Mistellektine und Viscotoxine zurückgeführt, die eine unspezifisch immunstimulierende und eine zytostatische Wirkung aufweisen. Auf dem deutschen Markt werden anthroposophische Mistelextrakte ohne standardisierten Lektingehalt und als pflanzliche Heilmittel registrierte Mistelpräparate mit standardisiertem Lektingehalt vertrieben. Alle Mistelpräparate sind rezeptfrei. Die Kosten der Misteltherapie im Rahmen einer Palliativbehandlung bei Patientinnen mit metastasiertem Brustkrebs werden von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen. Eine adjuvante Behandlung bei nicht-metastasiertem Brustkrebs wird aufgrund der bisherigen unsicheren Evidenzlage nicht übernommen. Ein früherer Health Technology Assessment (HTA)-Bericht, der die „Misteltherapie als begleitende Behandlung zur Reduktion der Toxizität der Chemotherapie maligner Erkrankungen" untersuchte, kam zu dem Schluss, dass sich nur bei Brustkrebs Hinweise dafür ergäben, dass eine begleitende Misteltherapie die gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessern könnte. Im vorliegenden HTA-Bericht wird analysiert, ob es inzwischen neue Evidenz zur medizinischen Wirksamkeit und Sicherheit gibt, die diese Fragen klären kann. Zudem werden auch Kosten und Kosteneffektivität, Patientenaspekte und soziale Implikationen sowie ethische Fragen, die mit einer begleitenden Misteltherapie bei Brustkrebs verbunden sind, systematisch untersucht. Forschungsfragen: Verringert die zusätzliche Gabe von Mistelpräparaten patientenrelevante Nebenwirkungen der konventionellen Chemotherapie und verbessert sie die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Patientinnen mit Brustkrebs im Vergleich zur Chemotherapie ohne eine Begleittherapie mit Mistelpräparaten? Wie ist der Effekt auf das progressionsfreie Überleben oder auf die Gesamtüberlebenszeit bei Patientinnen mit Brustkrebs? Wie hoch sind die Unterschiede in den Kosten einer begleitenden Misteltherapie und wie ist die Kosteneffektivität der begleitenden Misteltherapie im Vergleich zur Behandlung ohne Mistelpräparate? Welche Einstellungen, Erfahrungen, Wahrnehmung und welches Wissen haben Patientinnen und Fachpersonal hinsichtlich der begleitenden Misteltherapie? Gibt es Hindernisse für den Zugang zur Misteltherapie für interessierte Patientinnen? Wie sieht die Arzt-Patienten-Kommunikation zur begleitenden Misteltherapie aus und gibt es Punkte, die für eine adäquate Inanspruchnahme besonders kommuniziert werden sollten? Welche ethischen Aspekte auf individueller, gesellschaftlicher und berufsethischer Ebene sind bei der Misteltherapie als Begleittherapie bei Patientinnen mit Brustkrebs im Vergleich zur konventionellen Therapie allein relevant? Zu welchem Ergebnis kommen eine Bewertung und Abwägung der identifizierten ethischen Aspekte und Herausforderungen, das heißt, insbesondere unter welchen Bedingungen ist der Einsatz der begleitenden Misteltherapie bei adjuvanter und palliativer Behandlung von Brustkrebs ethisch vertretbar? Methodik: Es wurden systematische Übersichtsarbeiten zur medizinischen Wirksamkeit und Sicherheit, von Kosten und Kosteneffektivität, von Patienten- und sozialen Aspekten sowie zur ethischen Bewertung durchgeführt. Für Patienten- und soziale Aspekte sowie die ethische Bewertung wurden auch Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse angewendet. Ergebnisse: Zur Bewertung der medizinischen Wirksamkeit und Sicherheit wurden insgesamt sieben Studien, zur Bewertung von Kosten und Kosteneffektivität eine Studie, zur Bewertung von Patienten- und sozialen Aspekten 13 Studien, zur ethischen Bewertung 17 Fachartikel eingeschlossen. Es konnten keine randomisierten kontrollierten Studien zur medizinischen Wirksamkeit der begleitenden Misteltherapie hinsichtlich des Gesamtüberlebens bei Patientinnen mit Brustkrebs identifiziert werden. Eine Studie mit geringen Patientenzahlen zeigte nach fünf Jahren keinen Unterschied im krankheitsfreien Überleben zwischen Patientinnen mit und ohne begleitender Misteltherapie. Es gibt Evidenz aus drei randomisierten Studien dafür, dass Nebenwirkungen der Chemotherapie abgemildert und die gesundheitsbezogene Lebensqualität 15 bis 18 Wochen nach Therapiebeginn erhöht wird. Die Effekte sind eher gering bis moderat. Es ist unsicher, ob diese Effekte durch systematische Verzerrung der nur subjektiv messbaren Zielgrößen aufgrund unzureichender Verblindung in den Studien bedingt sein könnten. Bekannte Nebenwirkungen der Misteltherapie, wie leichtgradige und moderate Lokalreaktionen, die in diesen und weiteren vier nicht-randomisierten Studien erhoben wurden, sind häufig, aber geringen Ausmaßes. Mögliche Wechselwirkungen zwischen Krebsmedikamenten und Mistelextrakten, die auf der Immunstimulation beruhen könnten, wurden in den eingeschlossenen Studien in diesem HTABericht nicht untersucht. Zu Kosten und Kosteneffektivität einer begleitenden Misteltherapie gibt es keine ausreichend validen Studien. Aus zehn Studien, in denen Patientinnen mit Brustkrebs befragt wurden, geht hervor, dass im Median 24,9 % (Spannweite: 7,3 bis 46,3 %) der Patientinnen mit Brustkrebs eine Misteltherapie anwenden. Drei Studien, in denen Fachpersonal (meistens Ärztinnen und Ärzte) befragt wurden, berichten, dass im Median 29,3 % (Spannweite: 29,3 bis 79,2 %) die begleitende Misteltherapie einsetzen. Zu Wissen, Einstellung, Akzeptanz, Zufriedenheit, Erfahrungen, Erwartungen, Zugang, Art und Umfang der Arzt-Patienten-Kommunikation und Information zur Misteltherapie aus Patientinnensicht liegen nur wenige Studien mit geringer Stichprobengröße vor. Motive für die Anwendung komplementär- sowie integrativmedizinischer Verfahren und der begleitenden Misteltherapie sind der Wunsch, nichts unversucht zu lassen, eine aktive Rolle in der Behandlung einzunehmen, die Standardtherapie entweder zu ergänzen oder sie sanfter ohne Nebenwirkungen zu gestalten. Konkret ist die Anwendung der Misteltherapie mit der Erwartung verbunden, die Nebenwirkungen bei der konventionellen Krebstherapie zu reduzieren und das Immunsystem zu stimulieren. Gründe für die Anwendung der begleitenden Misteltherapie beim Fachpersonal waren der Wunsch und die Motivation der Patientinnen, die Erweiterung des eigenen Angebotsspektrums, die eigene Überzeugung oder der Glaube an die Unwirksamkeit der konventionellen Therapie. Als Grund gegen die Anwendung wurde genannt, dass Zeit verloren gehe, unkonventionelle Methoden zu teuer seien und die Anwendung konventioneller Methoden verhindert werde. Zudem fehle spezifisches Fachwissen und Personal. Die Studien weisen auch darauf hin, dass sich die Patientinnen häufig nicht ausreichend durch Fachpersonal beraten fühlen und dass die Patientinnen - z. B. bei ablehnender Haltung gegenüber der Misteltherapie bei den Behandelnden- die Behandelnden dann nicht über eine stattfindende Misteltherapie informieren. Im Rahmen der ethischen Bewertung wurden 26 ethische Aspekte identifiziert und den verwendeten ethischen Prinzipien Nutzen, Schaden, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Effizienz und Legitimität zugeordnet. Ein Dreh- und Angelpunkt der ethischen Bewertung der palliativen (und auch adjuvanten) Misteltherapie bei Brustkrebs stellt die problematische Evidenzlage hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit dar. Zum einen beziehen sich manche ethischen Aspekte beziehungsweise Kriterien/Konflikte unmittelbar auf diese, so etwa all jene, die mit der Abschätzung und Abwägung von Nutzen- und Schadenspotenzialen zu tun haben. Zum anderen sind aber auch weitere ethische Aspekte beziehungsweise Kriterien/Konflikte von der Evidenzlage abhängig, so die Bedingungen einer erfolgreichen informierten Einwilligung in eine Therapie (Aufklärung über Nutzen- und Schadenspotenziale, Informierung über die Evidenzlage beziehungsweise Stand der Wissenschaft) oder die Kommunikation zwischen Ärztinnen/Ärzten und Komplementär-/Integrativmedizinisch-Behandelnden aufgrund möglicher Diskrepanzen bei der Einschätzung der Wirksamkeit. Bei diesen Entscheidungen wird – zumindest, solange Schadenspotenziale als minimal eingeschätzt werden und die Finanzierung unproblematisch ist – im konkreten Einzelfall im besonderen Maße die Selbstbestimmung der Patientinnen ethisch maßgeblich sein. Besonders zu betonen bleibt bei der (palliativen, aber auch adjuvanten) Misteltherapie bei Brustkrebs aber die Gefahr, aufgrund von Vorurteilen basierend auf ihrer Zugehörigkeit zur Komplementär- oder Integrativmedizin sowohl eine unfaire Einschätzung der Nutzen- und Schadenspotenziale und/oder eine nicht ausreichend neutrale Aufklärung über die Therapie durchzuführen. Dabei sind sowohl mögliche negative als auch positive Vorurteile (unter anderem aufgrund weltanschaulicher Überzeugungen) gleichermaßen zu beachten. Schlussfolgerungen: Aufgrund dieser insgesamt unsicheren Datenlage kann nicht empfohlen werden, die Finanzierung der Misteltherapie durch die GKV auf die adjuvante Therapie auszudehnen. Über den Einzelfall hinaus müssen auch Entscheidungen auf der politischen Ebene dahingehend getroffen werden, ob die Kostenerstattung der palliativen Misteltherapie bei Brustkrebs angesichts der Unsicherheiten bei der Wirksamkeit weiterhin erfolgen soll. Obwohl die Misteltherapie rezeptfrei zugelassen und verfügbar ist, sollten weitere randomisierte Studien durchgeführt werden, um die Unsicherheit hinsichtlich der Wirksamkeit zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, des Gesamtüberlebens und des progressionsfreien Überlebens zu reduzieren. Die Unsicherheit der bestehenden Datenlage macht es umso wichtiger, die Patientinnen neutral und kompetent zu beraten, unabhängig davon, welche Einstellung die Behandelnden oder Beratenden selbst zur Misteltherapie haben. Ein wichtiger Bestandteil der Patientinnenberatung sollte die verständliche und transparente Übermittlung der Tatsache sein, dass es derzeit keinen wissenschaftlichen Nachweis gibt, ob die Misteltherapie die Überlebenszeit oder das progressionsfreie Überleben bei Patientinnen mit Brustkrebs relevant erhöht, und dass eine Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität als eher moderat einzuschätzen ist und ebenfalls nicht als gesichert gelten kann. Außerdem sollte explizit darauf hingewiesen werden, dass aufgrund der Immunstimulation eventuell Wechselwirkungen zwischen Krebsmedikamenten und Misteltherapie auftreten könnten, hierzu aber ebenfalls unzureichende Daten vorliegen. Für Patientinnen, die medizinische Informationen aus dem Internet nutzen möchten, sollten Hinweise auf vertrauenswürdige Internetseiten, die Informationen zur begleitenden Misteltherapie enthalten, gegeben werden.

Details

Language :
German
Database :
OpenAIRE
Accession number :
edsair.doi...........7b793c7a2d08c177212ee96cd46cc35a
Full Text :
https://doi.org/10.3205/hta000141l