Die evangelischen Landeskirchen Westdeutschlands durchlebten nach Ende des Zweiten Weltkriegs strukturelle Veränderungsprozesse nie gekannten Ausmaßes. Diese grundlegenden Veränderungen betrafen ihre konstitutionelle, strukturelle und personelle Verfasstheit und die wahrgenommenen sozialen Aufgaben, die sie zu einem zentralen Träger des Sozial- und Wohlfahrtsstaates machten. Der Auslöser für diesen Sprung in die Moderne, der zwischen 1958 und 1970 in einer unumkehrbaren Dynamik und Geschwindigkeit stattfand, war der rasant wachsende Wohlstand Westdeutschlands, gemeinhin als das "Wirtschaftswunder" bezeichnet, an dem die Kirchen durch die Kopplung der Kirchen- an die Einkommenssteuer ökonomisch partizipierten. Die evangelischen Kirchen erlebten eine "Zeit der Erquickung", wie Martin Niemöller voller Freude auf der Synode der EKHN 1961 ausrief, und die dazu führte, "dass man sich um Geld keine Sorgen mehr machen" müsse. Neben dem Aufbau einer Leistungsverwaltung, die diese Modernisierung erst ermöglichte, erfolgte zugleich ein erheblicher materieller Ausbau kirchlicher Präsenz: Hunderte Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäuser und Kindergärten wurden im Gebiet der EKHN binnen der kurzen Zeitspanne von zehn Jahren gebaut, der Gebäudebestand verdoppelte sich. Begleitet wurde dies durch die Schaffung zahlreicher neue Pfarr- und Pfarrvikarstellen nicht nur auf kirchengemeindlicher Ebene, sondern besonders im übergemeindlichen kirchlichen Dienst, so beispielsweise in der Polizei-, Gefängnis-, Militär-, Kriegsdienstverweigerer-, Krankenhaus- und Arbeiterseelsorge. Die Ev. Landeskirchen versuchten u.a. dadurch, mit der sich pluralisierenden Gesellschaft Schritt zu halten, und wurden in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen seelsorgerisch tätig. Getragen wurde dieser kirchliche Modernisierungsprozess vor allem von einer zwischen 1905 und 1914 geborenen Generation. Diese strömten ab Mitte der 1920er Jahre in großer Zahl an die Universitäten, um durch ein Theologiestudium einen Beruf zu ergreifen, der ihnen ökonomische und gesellschaftliche Absicherung versprach. Diese späteren Pfarrer, die in einer Zeit von existentiellen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wirren und Brüchen aufwuchsen und sozialisiert wurden, können deshalb als "Generation der Depression" bezeichnet werden. Sie besetzten spätestens ab Mitte der 1950er Jahre auf allen Ebenen zentrale kirchliche Ämter. Gerade das Zusammentreffen von neuen zuvor ungeahnten finanziellen Handlungsmöglichkeiten mit einer jüngeren Theologengeneration nach 1945 war der Dreh- und Angelpunkt des Modernisierungsprozesses. Im Zentrum der Dissertation steht die Analyse der EKHN und ihrer Kirchengemeinden im Zeitraum von 1945 bis 1980. Durch die Verwendung einer mikrohistorischen komparatistischen Methodik, in deren Mittelpunkt eine Finanzanalyse steht und mit der die Wechselwirkungen von lokalen und überregionalen Ebenen untersucht wurde, soll die Komplexität kirchlicher Strukturen und deren Veränderungen aufgeschlüsselt werden.