Einleitung: Welche Vorstellungen haben Medizinstudierende von real erlebten Ärzten und was zeichnet das Idealbild eines Arztes in ihrer Vorstellung aus? Wie weit entfernt befinden sich diese Vorstellungskomplexe von ihrer Selbstreflexion bzw. ihrem Selbstbild und können weit auseinanderklaffende Vorstellungen („Semantische Distanzen“, s.u.) die psychische Gesundheit Medizinstudierender negativ beeinflussen? Erste Auseinandersetzungen mit diesen Fragen erfolgten bereits in vorherigen Studien (Speierer et al., 1984, Schrauth et al., 2009 ) mittels des „Semantischen Differentials“ bzw. „Polaritätsprofils“. Dieses, durch Osgood und Hofstätter entwickelte Skalierungsverfahren, ermöglicht eine Einstufung assoziativer Wortbedeutungen anhand bipolarer Adjektivpaare und erfasst somit insbesondere Bereiche der Einstellung, Emotion und Motivation (Wenninger et al., 2000 ). Als erfolgreiche Bewältigungsressource gegenüber Stressoren spielt, neben realistischen Rollenerwartungen an den Arztberuf, laut Schuhmacher das Kohärenzgefühl, mit seinem „[…] überdauernde[n] und dynamische[n] Gefühl des Vertrauens, […] dass […] die Dinge sich so entwickeln werden, wie man es [..] erwarten kann“, eine wichtige Rolle (Schumacher et al., 2000b: 472 ). Ebenfalls scheint die Überzeugung über die eigenen Kompetenzen, welche sich in der Selbstwirksamkeitserwartung abbildet, „eine personale Bewältigungsressource mit prädiktivem Wert für das Wohlbefinden […]“ zu sein ((Hinz et al., 2006: 26 ) aus (Jerusalem and Schwarzer, 1992, Jerusalem, 1990 )). Die hier vorgelegte Studie untersucht deshalb erstmals die unterschiedlichen Abschnitte der ärztlichen Ausbildung hinsichtlich der oben genannten Perspektiven und mögliche Zusammenhänge der Vorstellungskomplexe mit dem Selbstwirksamkeits- sowie Kohärenzerleben. Methode: In einer Untersuchung mittels etablierter Instrumente wurden insgesamt N = 1169 am Medizinstudium interessierte Schüler der Oberstufe, Medizinstudierende des 1., 3., 6. und 9. Fachsemesters, sowie PJ-Studierende befragt (RR 76,7 %). Mit Hilfe des Polaritätsprofils wurden dabei das Real- und Idealbild eines Arztes sowie das Selbstbild der Teilnehmer mittels einer 7-stufigen Skala anhand von jeweils 18 bipolaren Adjektivpaaren erfasst. Die sich daraus ergebenden „Semantischen Distanzen“ (D) beschreiben die Differenzen bzw. Gemeinsamkeiten zweier Vorstellungskomplexe in einem Konstrukt als metrisch messbare Variable D. Sie wurden zum einen für die gesamte Stichprobe, zum anderen für die einzelnen Subgruppen und -ebenen berechnet. Darüber hinaus wurden das Kohärenzgefühl (SOC-13) sowie die Selbstwirksamkeitserwartung (SWE) erhoben und mittels einer Spearman-Korrelation der Zusammenhang zwischen den Semantischen Distanzen der Arzt- und Selbstbilder mit dem SOC-13- und SWE-Summenscore untersucht. Ebenfalls wurden die Semantischen Distanzen in einer Trendstudie mit den vorhergehenden Studien von Speierer (1984) und Schrauth (2009) verglichen. Ziel der Untersuchung war es, mögliche geringere Semantische Distanzen in höheren Studienabschnitten aufzuzeigen und zu analysieren, ob ein negativer Zusammenhang zwischen Kohärenzgefühl und Selbstwirksamkeitserleben und den Distanzen vorliegt. Ebenso sollte gezeigt werden, dass in der vorliegenden Studienpopulation kleinere Distanzen innerhalb der Konstrukte im Vergleich zu Vorarbeiten vorliegen. Ergebnisse: In der Wahrnehmung der drei Bilder befand sich das Selbstbild für alle Subgruppen (M = 5.31; SD = 0.52; V = 0.27) auf der 7-stufigen Antwortskala nahezu für alle Adjektivpaare zwischen dem geringer eingeschätzten Realbild und dem größer wahrgenommenen Idealbild. Zu allen Ausbildungszeitpunkten wurde das Idealbild im Mittel relativ konstant eingestuft (M = 5.78; SD = 0.43; V = 0.18). Das Realbild wurde im Vergleich zu den anderen Subgruppen von den Schülern mit M = 4.9 (SD = 0.65) am größten eingestuft, zeigte zu den einzelnen Messzeitpunkten der Studienabschnitte jedoch mit einer Varianz von 0.48 das größte Streuungsmaß. Die „Semantischen Distanzen“ (D) zwischen dem Real- und Idealbild (MD_RealIdeal) sowie dem Real- und Selbstbild (MD_RealSelbst) waren im klinischen Studienabschnitt geringer (MD_RealIdeal = 5.31; MD_RealSelbst = 5.06) als im vorklinischen (MD_RealIdeal = 5.36; MD_RealSelbst = 5.14). Zum Zeitpunkt des Praktischen Jahres war MD_RealIdeal mit 5.33 und MD_RealSelbst mit 5.12 wieder größer. Die Vorstellungskomplexe dieser beiden Konstrukte lagen damit unter den Studierenden im klinischen Studienabschnitt metrisch am nähesten beieinander. Signifikante Unterschiede von D zeigten sich für MD_RealIdeal zwischen dem 1. und 6. sowie dem 6. und 9. Fachsemester und für MD_RealSelbst zwischen dem 1. und dem 3. Fachsemester. Die Subgruppe der Schüler zeigte bei allen drei Distanzen im Vergleich zu den Studierenden einen signifikanten Unterschied und wies die geringsten Semantischen Distanzen innerhalb der aggregierten Gruppen auf. Innerhalb der Gesamtstichprobe lagen die Vorstellungen von Ideal- und Realbild am weitesten auseinander (MD_RealIdeal = 5.08). In abnehmender Reihenfolge folgte mit MD = 4.93 die Distanz zwischen Real- und Selbstbild und die geringste Distanz mit MD = 4.22 zwischen dem Selbst- und Idealbild. Bezogen auf die Ebene der einzelnen Adjektivpaare zeigten sich die größten Distanzen der Gesamtstichprobe zwischen dem Real- und Selbstbild beim Adjektivpaar autoritär/demokratisch (MD = 1.84; SD = 1.45), zwischen dem Ideal- und Selbstbild beim Adjektivpaar unsicher/sicher (MD = 1.71; SD = 1.36) und zwischen dem Ideal- und Realbild beim Adjektivpaar oberflächlich/gründlich (MD = 2,221; SD = 1,387). Die Vorstellungen innerhalb dieser Konstrukte waren damit für diese Adjektivpaare am weitesten voneinander entfernt. Das Kohärenzgefühl wurde zum Zeitpunkt höherer Ausbildungsgrade größer eingeschätzt als zum Erhebungszeitpunkt niedrigerer Ausbildungsabschnitte (M = 63.27 in der Vorklinik, M = 64.58 im PJ). Die Selbstwirksamkeitserwartung zeigte in höheren Ausbildungsabschnitten kleinere Werte als in niedrigeren. In der Spearmans Rho Korrelation zeigte sich zwischen MD_RealSelbst und dem SOC-13- sowie dem SWE-Summenscore ein signifikanter negativer Zusammenhang (rs(SOC-13) = -0,165**; rs(SWE) = - 0,107**). Diese Korrelation zeigt sich noch deutlicher für die Distanz zwischen Ideal- und Selbstbild (rs(SOC-13) = -0,318**; rs(SWE) = - 0,352**). Eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung und ein kleines Kohärenzgefühl hängen mit einer großen Semantischen Distanz zwischen Selbst- und Idealbild sowie Selbst- und Realbild zusammen. Im Vergleich zu den beiden Vorarbeiten von Speierer (1981) und Schrauth (2006) zeigte sich eine relativ konstante Wahrnehmung der drei Bilder, insbesondere des Idealbildes. Betrachtet man die Semantischen Distanzen, haben sich die Vorstellungen von Real- und Idealbild von 1981 bis zur aktuellen Studie metrisch einander angenähert, wohingegen sich die Vorstellungen von Real- und Selbstbild der Studierenden voneinander entfernt haben. Diskussion: Die zentrale Hypothese kleinerer Semantischer Distanzen zwischen den Bildern in jeweils höheren Ausbildungsabschnitten, bestätigte sich in den aggregierten Gruppen für die Distanz zwischen Ideal- und Selbstbild. Die Annahme, dass sich die Semantischen Distanzen der Bilder zu unterschiedlichen Ausbildungsabschnitten signifikant unterscheiden, konnte zwischen einzelnen Semestern und zur Subgruppe der Schüler gezeigt werden. Offen bleibt hierbei, welches Bild in der Wahrnehmung welchen Anteil zur unterschiedlichen Distanzentstehung beiträgt. Ebenfalls bestätigte sich die Hypothese, dass kleinere Distanzen zwischen Real- und Selbstbild sowie Selbst- und Idealbild mit höheren Werten für die Selbstwirksamkeitserwartung und das Kohärenzgefühl einhergehen. Hier bleibt noch offen, in welchem Maße die Semantischen Distanzen als Prädiktoren für die Entwicklung des Kohärenzgefühls und der Selbstwirksamkeitserwartung gelten können. Die Ergebnisse dieser Studie können dazu beitragen z.B. Stresspräventionsprogramme für Medizinstudierende zu entwickeln, das Spannungsfeld zwischen Idealismus und Realismus abzubauen und das Kohärenzgefühl sowie die Selbstwirksamkeitserwartung zu stärken. Die größte Distanz beim Adjektivpaar realistisch/idealistisch, vor allem zwischen Selbst- und Idealbild, zeigen die nach wie vor großen Spannungen, die durch übersteigerte Ideale, unzureichende Aufklärung und den Zusammenprall mit der Realität entstehen können. Die in dieser Studie gewonnenen Erkenntnisse können beispielsweise Basis für Module der Reflexion von Real- und Idealarztvorstellungen sowie die Einordnung des Selbstbildes im curricularen Kontext sein bzw. in fakultativen Programmen zur Stressprävention von Medizinstudierenden beitragen. Aktuell in Planung sind die Ausdehnung der oben genannten Fragestellungen auf Assistenzärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, Fachärzte, niedergelassene Ärzte und Ärzte in leitender Funktion in Kliniken zur Erfassung des Weiterbildungsaspektes.