Ziel der vorliegenden Doktorarbeit ist eine Rekontextualisierung und Reevaluierung, des Opernlibrettos, eines Genres, das bislang nur allzu oft von LiteraturwissenschafterInnen vernachlässigt worden ist. Der zeitliche Rahmen dieser Arbeit, 1638 bis 1674, stellt nicht nur eine besonders intensive Phase in der französisch-italienischen Zusammenarbeit an der Konzeptualisierung dieses Genres dar, sondern gleichzeitig einen wichtigen Transformationsprozess in der dynastischen Politik, deren absolutistische Tendenz mit grundlegenden Auswirkungen auf die Geschlechterpolitik sich immer klarer abzeichnete. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Oper üblicherweise anlässlich aristokratischer und dynastischer Festlichkeiten, wie Geburt und Hochzeit, aufgeführt. Diese Festlichkeiten stellten eine besonders wichtige Gelegenheit dar, den politischen und natürlichen Körper des Monarchen in einer besonders einprägsamen Art und Weise darzustellen. Gerade der natürliche Körper des Monarchen gewann bei diesen Festlichkeiten an Bedeutung, denn er zeugte für die effektive Fruchtbarkeit des Prinzen und somit für die dynastische Kontinuität. In den Libretti wurde die sich an der Schnittstelle zwischen politischem und natürlichem Körper befindliche, mythologische Figur des Herkules wiederholt herangezogen. Herkules, der in der vorliegenden Arbeit als Paradigma für das Zusammenspiel verschiedener – narrativer und politischer – Kräfte dient, war der Protagonist vieler Opernlibretti während des 17. und 18. Jahrhunderts, doch gerade in der Entstehungsphase des Librettos zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die in die Entstehungsphase des Absolutismus fällt, gewann er an großer Bedeutung. Herkules steht somit repräsentativ im Zentrum der hier untersuchten Opernlibretti, die von den vielschichtigen textuellen, sexuellen und politischen Transformationsprozessen in Italien und Frankreich zwischen 1638 und 1674 zeugen. La Sincerità trionfante overo l’erculeo ardire des italienischen Librettisten Ottaviano Castelli wurde 1638 verfasst und im selben Jahr in der Französischen Botschaft in Rom aufgeführt. Diese Oper entstand anlässlich der Geburt von Ludwig XIV. – nach einer über zwanzig Jahre währenden „Sterilitätsphase“ des königlichen Ehepaars, Ludwigs XIII. und Anna von Österreich. La Sincerità trionfante stellt somit die erste Oper dar, die auf französischem Boden aufgeführt wurde. Die von Kardinal Mazarin anlässlich der Hochzeit von Ludwig XIV. und der Spanischen Infanta Maria-Theresia in Auftrag gegebene Oper Ercole amante stammt aus der Feder des Italieners Francesco Buti. Ihre Aufführung war ursprünglich für 1660 geplant, erfolgte jedoch erst zwei Jahre später, 1662. Eine der Librettoausgaben des Jahres 1662 enthält eine französische Übersetzung des italienischen Originallibrettos. Die Übersetzung, Hercule amoureux, die wesentliche Textänderungen beinhaltet, zeugt von den politischen Transformationen, die mit dem Tod Mazarins einhergingen und Ludwig XIV. den Weg zur Alleinherrschaft ebneten. Das letzte hier analysierte Libretto, Alceste ou le triomphe d’Alcide, ist das zweite Libretto des französischen Schriftstellers Philippe Quinault. Es wurde 1674 an der neu gegründeten Académie Royale de Musique aufgeführt und zeichnet den Transformationsprozess nach, den das Libretto nach der Institutionalisierung der Oper im Jahre 1672 erfuhr. Der vor 1670 enthusiastisch an Tanz- und Opernaufführungen teilnehmende Ludwig XIV. zog sich nach der Institutionalisierung der Oper physische aus den Opernproduktionen zurück und gab die Reproduktionskraft seines natürlichen Körpers symbolisch an sein Volk weiter, das nunmehr das „Recht“ erhielt, sich gleichzeitig zum sich nunmehr im Rahmen der Institution unendlich wiederholenden Libretto zu reproduzieren. Die vorliegende Arbeit stellt eine Analyse des Librettos als literarisches Genre dar. Obwohl notwendigerweise zeitlich und örtlich eingeschränkt, hofft diese interdisziplinär ausgerichtete Arbeit, einen Beitrag zum bislang kaum beforschten Feld der Librettologie zu leisten., The aim of the present work is to recontextualize and reevaluate a genre that has often been neglected by literary scholars: the libretto. The proposed temporal framework, 1638 to 1674, not only constitutes a significant phase in the Franco-Italian elaboration of this genre but also marks an important transformation in dynastic politics, a period with the emergence of absolutism and its fundamental impact on sex and gender politics. Early 17th-century opera was traditionally performed during dynastic occasions, such as births and marriages, that constituted moments in which the body politic and the body natural of the monarch acquired a particular signification: the effective fertility of the monarch – guarantor of the dynastic lineage – gained as much importance as the politically charged symbolic representations of the prince. A paradigmatic figure at the crossroads of the body politic and the body natural was the Greco-Roman mythological figure Hercules. Hercules figures as a protagonist in a wide range of opera librettos throughout the 17th and 18th century, yet his significance is particularly relevant in the early phase of the constitution of the libretto, when the construction of this new genre coincided with the construction of new political dynamics. The three opera libretti featuring Hercules as their protagonist are a representative sample of the multifaceted textual, sexual and political transformation process. La Sincerità trionfante overo l’erculeo ardire, by the Italian librettist Ottaviano Castelli, was written in 1638 and performed in the same year at the French Embassy in Rome. Created for the birth of Louis XIV and after more than twenty years of the royal couple’s – Louis XIII’s and Anne of Austria’s – “sterility,” it constitutes the first opera represented on French territory. Ercole amante, written by the Italian Francesco Buti and commissioned by Cardinal Mazarin for the marriage of Louis XIV with the Spanish Infanta Maria-Theresa in 1660, was performed two years later, in 1662, in Paris. One of the 1662 editions of the libretto was published with an anonymous French translation of the text. This translation, titled Hercule amoureux, contains significant changes that testify to the political changes that occurred after the death of the Cardinal in 1661 and which opened the way to Louis XIV’s absolutism. The last libretto, Alceste ou le triomphe d’Alcide, is the second libretto written by Philippe Quinault. It was performed at the Académie Royale de Musique in 1674 and marks the transformation that the libretto underwent in its institutionalization. Louis XIV, who had been eager to participate in dance and opera performances before 1670, withdrew from the scene. In doing so, he symbolically passed the power of his body natural to his subjects who were given the “right” to procreate as the production of the libretto multiplied in the framework of the institutionalized opera. The present work constitutes an analysis of the libretto as a literary genre and is necessarily limited by the temporal and geographical framework. Nevertheless, it is hoped that it provides a fruitful incentive for future work in the still largely uninvestigated field of librettology.