"Die politische Psychologie lebt von der Idee des Zusammenhangs zwischen der Lebensgeschichte der einzelnen Individuen und dem, was sie sich geschichtlich antun."Peter BrücknerDer Herrschafts- und Gewaltcharakter gesellschaftlicher Phänomene, wie etwa Antisemitismus, Rechtsextremismus oder die Stabilität sozialer Ungleichheiten, insbesondere in den aktuellen Migrationsgesellschaften, entlang der Achsen race, class und gender ist ohne eine Analyse ihrer unbewussten Dynamiken nicht zu verstehen. Diese zu erforschen und damit "den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität" (Adorno 1955/1997, 42) an der Schnittstelle zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und psychoanalytischer Subjekttheorie nachzuspüren, gehört seit ihren Anfängen zu den zentralen Aufgaben einer psychoanalytisch orientierten Politischen Psychologie. Diese nimmt das Verhältnis der einzelnen Subjekte zu den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen wissenschaftlich in den Blick. Politische Psychologie fragt nach der in den historisch-gesellschaftlichen Raum eingebetteten Konstitution der Elemente des Psychischen (Wünsche, Affekte, Objektbeziehungen und Interaktionsformen, Konflikte, Vorstellungen, Überzeugungen, …) und ihrer Bedeutung für die Herstellung, die Aufrechterhaltung und die Veränderung von gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen: Was macht Menschen anfällig für Propaganda und autoritäre Unterwürfigkeit? Wie entwickeln sich Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus? Wie entsteht Sexismus? Wo liegen die Gründe für politische Apathie? Wie kann die Beteiligung an Emanzipationsbewegungen unterstützt werden?Die Konservierung wie die Veränderung von Institutionen, sozialen Praxen und Herrschaftsverhältnissen sind, wie sich beispielsweise an der gegenwärtigen Umstrukturierung der Hochschullandschaft zeigen ließe, mit Eingriffen in die Subjektstruktur verkoppelt: Bestimmte Wünsche, Triebe und Interessen sollen befriedigt, andere bekämpft und tabuisiert werden. Es gibt ein grundlegendes gesellschaftliches Bemühen darum, aus der inneren Natur des Menschen (A. Lorenzer) einen übersichtlichen Affekthaushalt zu formen und ein zuverlässiges, arbeits- und liebesfähiges Subjekt zu produzieren. Dieses Bemühen scheitert regelmäßig. So wendet Freud gegen die Annahme, "dass dem Ich des Menschen alles psychologische möglich ist, was man ihm aufträgt, dass dem Ich die unumschränkte Herrschaft über sein Es zusteht", lakonisch und engagiert ein: "Das ist ein Irrtum, und auch bei den so genannten normalen Menschen lässt sich die Beherrschung des Es nicht über eine bestimmte Grenze steigern. Fordert man mehr, so erzeugt man beim Einzelnen Auflehnung oder Neurose oder macht ihn unglücklich" (Freud 1930, 268). Es gibt einen Eigensinn im Subjekt, der sich in Prozessen der Sozialisation und der Enkulturation nicht vollständig auflöst, sich ihnen entzieht. Dieser "Rest" bildet sowohl eine Quelle des Widerstandes gegen die Zumutungen von Herrschaft und gegen gesellschaftliche Versagungen, wie auch eine Quelle der Konservierung anachronistischer sozialer und politischer Verhältnisse: Soziale Institutionen und Praxen, Herrschafts- und Machtverhältnisse halten sich nicht deshalb am Leben, weil sie objektive Krisenlagen besonders intelligent lösen, sondern weil sie auch eine psychische Funktion für viele Einzelne haben. Gemessen am historisch möglichen Stand von Freiheit obsolete gesellschaftliche Verhältnisse und mit ihnen verbundene reaktionäre politische Ideen sedimentieren sich, weil sie den ihnen unterworfenen Individuen dort psychische Stabilität und Entlastung vermitteln, wo sie sie beschädigen und sich ihnen versagen. Dies lässt sich an der Geschichte des Antisemitismus (vgl. den Beitrag von Salzborn in dieser Schwerpunktausgabe) ebenso zeigen, wie an dem neoliberalen Wandel des Geschlechterverhältnisses (vgl. den Beitrag von Kerschgens in dieser Schwerpunktausgabe).Wohl gerade, weil sie unbequeme Fragen stellt, hat sich entgegen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung eine psychoanalytische Politische Psychologie seit ihrer breiteren Rezeption in den 1960er und 70er Jahren nicht zu einem festen Bestandteil der Universität etabliert. Trotz gelegentlicher Ausnahmen sind die Sozialwissenschaften bis heute insbesondere für die unbewussten psychologischen Seiten politischer und sozialer Prozesse vielfach blind geblieben. Politische Psychologie ist in den Universitäten noch immer ein Fremdkörper, der kaum zur Kenntnis genommen wird. Der mainstream der Sozialwissenschaften - gerade auch der akademischen Psychologie - geht an ihr vorbei. Im Zuge der Umstrukturierung der Hochschullandschaft in den letzten Jahren ("Bologna-Prozess") wird die Politische Psychologie nun auch an den wenigen Orten, an denen sie noch institutionell verankert ist, immer mehr als "veraltet" und "nicht anschlussfähig" charakterisiert und verschwindet so zunehmend aus den Universitäten. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, haben sich im Januar 2009 an der Leibniz Universität Hannover Studierende, Lehrende und Forschende aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Institutionen zur "Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie" (AG PolPsy) zusammengeschlossen und inzwischen nationale und internationale KooperationspartnerInnen gefunden (Informationen über die AG PolPsy und ihre Aktivitäten finden sich unter www.agpolpsy.de).Das Spezifikum der wissenschaftlichen Perspektive der AG PolPsy besteht in der Integration der Psychoanalyse als kritischer Subjekttheorie in die Untersuchung von Politik, Geschichte und Gesellschaft. Die Psychoanalyse ist für eine Politische Psychologie von grundlegender Bedeutung: Es gibt keinen anderen sozialwissenschaftlichen Ansatz - schon gar nicht in der akademischen (Sozial-) Psychologie -, der eine vergleichbar differenzierte Theorie der menschlichen Psyche, der Subjektkonstitution und der Bedeutungsgenese bereithält. Der zentrale Stellenwert der Psychoanalyse für eine Politische Psychologie liegt dabei vor allem auch in der Metapsychologie. Diese stellt ein kritisches Reflexionsmedium dar, das soziologistischen oder biologistischen Vereinseitigungen und harmonisierenden Falldarstellungen entgegenwirken kann (vgl. den Beitrag von Kirchhoff in dieser Schwerpunktausgabe). Ohne die Psychoanalyse als kritischer Subjekttheorie lassen sich u.E. die subjektiven Bedingungen der Beteiligung von Einzelnen und Gruppen an der Herstellung, der Aufrechterhaltung und der Veränderung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse ebenso wenig verstehen, wie die sozialisationsvermittelten Spuren des Gesellschaftlichen im Subjekt ohne eine kritische Gesellschaftstheorie.Die AG PolPsy hat vom 4. - 6. Dezember 2009 in Hannover eine Tagung zur Frage "Politische Psychologie heute?" veranstaltet, um SozialwissenschaftlerInnen der älteren und der jüngeren Generation einen Ort der Diskussion und des Ausstauschs zu bieten. Diese Tagung diente der (Selbst-) Vergewisserung, wie es um Politische Psychologie im deutschsprachigen Raum bestellt ist. Wo kommen die einzelnen an Politischer Psychologie Interessierten her? Wie ist es um ihre institutionelle Anbindung bestellt? Welche Traditionslinien, welche älteren und neuen theoretischen Ansätze greifen sie auf? Welche Themen brennen Politischen PsychologInnen unter den Nägeln? Auf der Tagung wurde grundlegend über die Aktualität der Politischen Psychologie diskutiert: Worin liegen die Chancen einer Politischen Psychologie heute und wofür brauchen wir sie eigentlich noch? Welche Rolle kommt der Psychoanalyse in ihr zu? Wie sind die psychoanalytisch-sozialpsychologischen Konzepte einzuschätzen, die momentan breiter aufgegriffen werden? Wie kann die Politische Psychologie aktualisiert werden? Welche neuen gesellschafts-, kultur- und subjekttheoretischen wie auch psychoanalytischen Theorieentwicklungen müssen aufgegriffen werden, um aktuelle gesellschaftliche Phänomene verstehen zu können? Ziel der Tagung war es nicht nur, nach der Bedeutsamkeit der politisch-psychologischen Traditionen für die Gegenwart zu fragen und zusammenzutragen, was aktuell unter Politischer Psychologie verstanden wird. Thematisiert wurde, ob und ggf. wie die Politische Psychologie durch das Aufgreifen neuerer theoretischer und methodischer Ansätze und das Erschließen neuer Anwendungsgebiete aktualisiert und vorangetrieben werden kann (vgl. die Beiträge von Bruder und Zander in dieser Schwerpunktausgabe). Die Tagung war mit ca. 150 TeilnehmerInnen sehr gut besucht und durch eine angeregte Diskussionsatmosphäre geprägt. Dies bestätigt eindrucksvoll das Interesse an und den hohen Aktualitätsgehalt der psychoanalytisch orientierten Politischen Psychologie, den die AG PolPsy in der vorliegenden Schwerpunktausgabe des Journals für Psychologie einer breiteren Leserschaft präsentiert. In dieser Ausgabe finden sich ein Vorabdruck von vier ausgewählten Tagungsbeiträgen sowie eine Darstellung der Podiumsdiskussion der Tagung. Ein vollständiger Tagungsband ist für 2011 geplant. Obwohl es sich nicht um einen Beitrag von der Tagung handelt, wurde zusätzlich ein Text von Klaus-Jürgen Bruder in diese Schwerpunktausgabe des Journals für Psychologie aufgenommen.Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn (Institut für Politikwissenschaft der Universität Giessen) diskutiert in seinem Beitrag Zur Politischen Psychologie des Antisemitismus verschiedene gesellschafts- und subjekttheoretische sowie massenpsychologische Ansätze der Antisemitismusforschung. Betont wird hierbei die projektiv-wahnhafte Qualität antisemitischer Vorstellungswelten, bei der es sich nicht um ein individuelles, sondern ein kollektives Phänomen handelt. Unter Rekurs auf verschiedene (sozial-) charakterologische Ansätze, vor allem aber auf Grunbergers psychoanalytischen Beitrag zur Antisemitismusforschung, setzt sich Salzborn mit der Konstitution der antisemitischen Persönlichkeit in der frühen Kindheit auseinander.Die Soziologin Anke Kerschgens (Institut für Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt am Main) thematisiert in ihrem Beitrag Zum widersprüchlichen Wandel des Geschlechterverhältnisses: Arbeitsteilung in Familien, welche neue Anforderungen an und Deutungsmuster von Familie sich mit dem gegenwärtigen neoliberalen Wandel ergeben. Einen Gradmesser für die mit diesem Wandel verbundenen Veränderungen des Geschlechterverhältnisses stellt die Arbeitsteilung in Familien mit Kleinkindern dar. Anhand ihrer empirischen Forschungsergebnisse und mit Blick auf familiäre Lebensentwürfe macht Kerschgens die komplexen Verknüpfungen von gesellschaftlichen Deutungsvorgaben und lebensgeschichtlich fundierten triadischen Familienkonstellationen deutlich. Aufgezeigt wird, zu welchen typischen Mustern es hierbei kommen kann.Der Psychologe Michael Zander (Institut für gerontologische Forschung Berlin) arbeitet sich in seinem Beitrag Im Schutze der Unbewusstheit. Zur psychologischen Fundierung des Habitusbegriffs Pierre Bourdieus kritisch an einem politisch-psychologisch relevanten Begriff der soziologischen Theorie Bourdieus ab: Dem "Habitus" kommt bei Bourdieu eine Schlüsselfunktion für die Erklärung von Herrschaft zu. Als problematisch sieht Zander jedoch an, dass der Habitus bei Bourdieu zuweilen als handelndes und Entscheidungen treffendes Subjekt erscheint. Zur Überwindung dieser Probleme schlägt Zander eine psychologische Fundierung des Begriffs vor und greift hierbei unter anderem Bourdieus eigene Rezeption der Psychoanalyse auf, die in der deutschsprachigen Soziologie bislang kaum zur Kenntnis genommen wird.In ihrem Beitrag Wozu noch Metapsychologie fragt die Psychologin Christine Kirchhoff (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin) vor dem Hintergrund der Reformulierung der Psychoanalyse als Neuro-Psychoanalyse nach dem Stellenwert der Freudschen Metapsychologie für das gesellschaftskritische Potential der Psychoanalyse. Kirchhoff zieht hierbei eine Parallele zu Adornos Verteidigung der Philosophie und zeigt, dass metapsychologische Konzepte es erlauben, menschliche Natur als gesellschaftlich vermittelte zu denken, sie jedoch inkompatibel mit einer positivistischen Auffassung der Psychoanalyse sind.Anschließend findet sich ein Abdruck der Podiumsdiskussion, die den Abschluss der Tagung bildete. Nachgedacht wurde über den Stellenwert der Psychoanalyse, über die institutionelle Anbindung der Politischen Psychologie und ihre (politische) Praxis unter der Kernfrage: Was ist eigentlich das "Politische" an der Politischen Psychologie?Das Heft schließt mit dem Einzelbeitrag "…wirst Du mich dreimal verleugnen" - Skizze zur Politischen Psychologie von Klaus-Jürgen Bruder (Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin), bei dem es sich nicht um einen Vortrag der Tagung, sondern um einen eigenständigen Beitrag handelt. Die AG PolPsy hat sich entschlossen diesen Beitrag in diese Schwerpunktausgabe aufzunehmen, da Bruder mit dem Ansatz Foucaults eine soziologische Theorie aufgreift und mit psychoanalytischen Gedanken verbindet, die in der Politischen Psychologie bislang wenig rezipiert wird. Bruder diskutiert in seinem Beitrag die Verleugnung gesellschaftlicher Machtverhältnisse durch die Beherrschten: Diese Verleugnung trägt zur Unterwerfung unter und zur Affirmation von Machtverhältnissen bei und ist daher als ein wichtiger Beitrag zur Aufrechterhaltung und Verfestigung von Herrschaftsverhältnissen zu verstehen. LiteraturAdorno, Theodor W. (1997 [1955]): Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie. In Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8., Soziologische Schriften Bd. 1 (42-85). Frankfurt/Main: Suhrkamp.Freud, Sigmund (1930): Das Unbehagen in der Kultur. In Studienausgabe Bd. 9 (191-270). Frankfurt/Main: Fischer.