Interview mit dem Autor: 1.) Wohl keine Wahl in den USA wird ohne Unterstützung religiöser Führer gewonnen - worauf begründet sich der hohe Einfluss, den Religion in jenem Land spielt, das sich der Trennung von Kirche und Staat rühmt? Schaut man sich den ersten Verfassungszusatz genau an, steht dort nur, dass der Staat keine Kirche gründen oder als Staatsreligion anerkennen darf und dass Religionsfreiheit herrscht. Alles Weitere sind Interpretationen dieses Verfassungszusatzes durch Thomas Jefferson und durch spätere Gerichtsurteile. Der Staat und die kirchlichen Institutionen sind also auf Abstand. Die Religionsfreiheit hat im Gegenzug zu einer großen Diversität von religiösen Gruppen geführt. Die Prägung breiter Teile von diesen Gruppen durch die Tradition der Puritaner hat religiöse Überzeugungen in unmittelbare Nähe zu politischen Debatten gebracht. Religion und Politik sind also keineswegs voneinander getrennt, sondern eng miteinander verwoben. Das so genannte National Prayer Breakfast ist ein schlimmes Beispiel für diese Tendenz. Seit den 1980er Jahren haben darüber hinaus die Versuche der christlichen Rechten zugenommen, durch Verfassungsänderung und Ähnliches die USA zu einer „christlichen Nation“ zu machen. 81% der weißen Evangelikalen haben 2016 Trump gewählt, weil sie sein Gesamtprogramm für zuträglich zu dieser Idee hielten. Dabei spielt die rassistische Vorstellung einer weißen christlichen Nation (wie seinerzeit die Puritaner) eine wichtige Rolle und wird von Trump ja bestens bedient. Dem entsprechend besteht der harte Kern seiner Wählerschaft aus weißen Protestanten. Was die religiösen Führer angeht, so ist die Nähe zu mächtigen Politikern eine gute Karrierechance. Eine Hand wäscht die andere. 2.) Sie sprechen von "Sekten" in Anführungszeichen - warum? Ich spreche von „Sekten“ im soziologischen Sinne; so wie Max Weber den Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendet hat. In diesem Verständnis handelt es sich um (damals noch kleine) Gemeinschaften, beruhend auf freiwilliger Mitgliedschaft. Diese stehen im Kontrast zu solchen religiösen Institutionen, in die man „hineingeboren“ wird. Damit ist für dieses Buch auch der Kontrast zwischen den US-amerikanischen Freikirchen und dem lateinamerikanischen Katholizismus thematisiert. Beide Formen der religiösen Organisation haben ganz spezifische Dynamiken, in der Gesellschaft präsent zu sein. Ein zweiter Grund ist der, dass ich die missbräuchliche Verwendung des Sektenbegriffs im Zusammenhang der protestantischen Mission und Kirchenbildung in Lateinamerika anklingen lassen möchte. Lange wurden protestantische Kirchen in Lateinamerika von ihren religiösen und politischen Gegnern im theologischen Sinne als Sekten bezeichnet; das heißt als religiöse Gruppen mit theologisch falschen Überzeugungen und Praktiken. Im Laufe der Lektüre wird man feststellen, dass es sich dabei um Polemik handelt – wenngleich bei bestimmten religiösen Organisationen heute man durchaus, theologisch gesehen, von Häretikern sprechen kann. Das theologische Urteil ist freilich in diesem Essay nicht angestrebt. 3.) Das Buch handelt ein Jahrhundert ab - wollen Sie einen Ausblick auf das nächste Jahrhundert wagen? Das ist eine höchst anspruchsvolle Frage, und ich weiß nicht, ob ich dazu viel beitragen kann. Beschränken wir uns auf religiöse Praxis und die Amerikas. Insgesamt werden wir eine größere religiöse Vielfalt in den verschiedenen Regionen erleben. Migranten in den USA lassen den Anteil an Katholiken, Muslimen und Anhängern asiatischer Religionen anwachsen. In Lateinamerika wachsen der Protestantismus und insbesondere die Pfingstbewegung. Zudem gibt es eine Rückbesinnung auf indigene und afroamerikanische Religiosität. Insgesamt in den Amerikas steigt zudem der Anteil religiös nicht gebundener Personen, Agnostikern und Atheisten an der Bevölkerung. Wenn man nun den Kontext anschaut, in dem sich diese Entwicklungen ereignen, ist das Panorama eher düster: ökologischen und wirtschaftliche Krisen; Refeudalisierung mit einer immer stärkeren Konzentration wirtschaftlicher, politischer und militärischer Macht in den Händen von wenigen Reichen; mehr Autoritarismus und Polarisierung der Gesellschaften; harte Verteilungskämpfe (z.B. um Wasser); und so weiter. Solche Bedingungen werden von autoritären religiösen Führern im Zusammenspiel mit Politikern gern und gut zu manipulativen Eingriffen genutzt. Meines Erachtens stellen die aktuellen Entwicklungen im religiösen Feld der USA und einiger lateinamerikanischer Länder eine reale Gefahr in dieser Hinsicht dar. Auf der anderen Seite sollten die religiösen Graswurzel-Bewegungen, die Ökumene und ihre Organisationen beachtet werden. Im genannten Kontext halten diese Gruppen die Forderungen nach Gerechtigkeit und Menschenwürde lebendig. Sie sind meist nur schlecht sichtbar, aber aktiv. Wer religiös ist, sollte sich dort engagieren.