Soziale Interaktionen zwischen Personen werden durch soziale Verhaltensregeln und Normen strukturiert. Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung und Internalisierung von Verhaltensregeln ist aus entwicklungspsychologischer Sicht mit der Entwicklung von Selbstregulation verbunden (Kopp, 1982; Thompson, Meyer, & McGinley, 2006). Der Bereitschaft und Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle (d. h. intendierte Hemmung einer dominanten aber unangemessenen Reaktion) wird eine bedeutsame Funktion für die Entwicklung individueller Unterschiede bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln beigemessen. Zusammenhänge zwischen inhibitorischer Kontrolle und der Internalisierung von Verhaltensregeln sind für Kinder in Sozialisationskontexten in denen independente Werthaltungen und Selbstvorstellungen vorherrschen (z. B. USA) gut dokumentiert (Kochanska et al., 1997; Kochanska et al., 1996).Metaanalytische Studien belegen überdies Geschlechtsunterschiede zugunsten von Mädchen hinsichtlich verschiedener Aspekte von Selbstregulation (Cross et al., 2010; Else-Quest et al., 2006), die für Internalisierungsprozesse relevant sind. Ein Forschungsdefizit besteht jedoch hinsichtlich der Frage, inwieweit sich diese empirischen Befunde und die damit verbundenen theoretischen Annahmen auf Sozialisationskontexte übertragen lassen, die durch interdependente Werthaltungen und Selbstvorstellungen geprägt sind. An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an. Ausgehend von Sozialisationstheorien zur Entwicklung von Selbstregulation greift diese Arbeit kulturinformierte Forschungsansätze auf (Trommsdorff, 2012) und verfolgt zwei Ziele. Erstens soll geprüft werden, inwieweit Geschlechts- und Kulturunterschiede bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln, Verhaltenssteuerung und inhibitorischer Kontrolle bestehen. Zweitens steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit in Abhängigkeit des Sozialisationskontextes und des Geschlechts der Kinder Ähnlichkeiten oder Unterschiede bezüglich der Zusammenhänge zwischen inhibitorischer Kontrolle und der Internalisierung von Verhaltensregeln bestehen.Die Fragestellungen und Hypothesen wurden mittels psychologischer Methoden des Kulturvergleichs in einem Independenz-orientierten Sozialisationskontext (Konstanz, Deutschland) und in einem Interdependenz-orientierten Sozialisationskontext (Varanasi, Indien) geprüft. Insgesamt nahmen 115 deutsche und 97 indische Kinder im Alter von 5 Jahren und ihre Mütter an der Studie teil. Deutsche und indische Mütter schätzten das Ver-halten ihrer Kinder bezüglich verschiedener Aspekte der Internalisierung ein (My Child- Fragebogen; Kochanska et al., 1994). Die erfassten verhaltensbezogenen Aspekte der Internalisierung bezogen sich zum einen auf die Bereitschaft und Fähigkeit der Kinder regel-konformes Verhalten im Familienkontext zu zeigen, eigene Regelübertretungen einzugestehen und für selbstverursachten Schaden Wiedergutmachung zu leisten. Zum anderen beurteilten die Mütter die Reaktionen der Kinder auf das Fehlverhalten anderer Personen. Darüber hinaus wurde die Bereitschaft und Fähigkeit zur Befolgung von Verhaltensregeln (d. h. Verhaltenssteuerung) in sozialen Interaktionen mit einer erwachsenen Person beo-bachtet (LabTab; Goldsmith et al., 1999).Die Kritik an bisher verwendeten Verfahren aufnehmend (Oosterlaan et al., 1998) wurde zur Erfassung der inhibitorischen Kontrolle die Stop-Aufgabe (Logan, 1994) eingesetzt.Hinsichtlich der untersuchten Geschlechtsunterschiede ergaben Mittelwertsvergleiche konsistente Ergebnisse bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln und der Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung. Aus Sicht der deutschen und indischen Mütter war die Bereitschaft und Fähigkeit zur Internalisierung bei Mädchen höher ausgeprägt als bei Jungen. Die Beobachtungsdaten bestätigten die durch die Mütter berichteten Geschlechtsunterschiede. Kulturunabhängig zeigten Mädchen auch in den beobachteten sozialen Interaktionen eine höhere Verhaltenssteuerung als Jungen. Zur Frage, inwieweit kulturelle Ähnlichkeiten oder Unterschiede bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln, Verhaltenssteuerung und inhibitorischer Kontrolle bestehen, war die Befundlage dagegen uneinheitlich. Deutsche Mütter beurteilten die Bereitschaft und Fähigkeit zur Internalisierung von Verhaltensregeln ihrer Kinder generell höher als indische Mütter. Im Gegensatz zu der Fremdeinschätzung durch die Mütter zeigten indische Kinder in den Interaktionssituationen jedoch eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung als deutsche Kinder. In Übereinstimmung mit den Einschätzungen der Mütter war die Bereitschaft und Fähigkeit zu inhibitorischer Kontrolle dagegen bei deutschen Kindern höher ausgeprägt als bei indischen Kindern.Regressionsanalysen ergaben in der deutschen und der indischen Stichprobe signifikante Zusammenhänge zwischen inhibitorischer Kontrolle und der Internalisierung von Verhaltensregeln. Erwartungsgemäß bestand in der deutschen Stichprobe ein positiver und linearer Zusammenhang zwischen inhibitorischer Kontrolle und internalisierter Verhaltenssteuerung. In der indischen Stichprobe ergab sich hingegen ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang zwischen inhibitorischer Kontrolle und Internalisierung. Hinsichtlich der beobachteten Verhaltenssteuerung ergab sich für die Gruppe der deutschen Jungen ein positiver Zusammenhang mit inhibitorischer Kontrolle.Diese Arbeit widmet sich der bisher nur wenig untersuchten Frage, inwieweit zwischen Vorschulkindern in Independenz- und Interdependenz-orientierten Sozialisationskontexten Ähnlichkeiten oder Unterschiede bezüglich der Internalisierung von Verhaltens-regeln bestehen. Kulturübergreifende Ähnlichkeiten bestanden insofern, als dass in beiden Sozialisationskontexten Mädchen im Vergleich zu Jungen eine höhere Bereitschaft und Fähigkeit zur Internalisierung und Befolgung von Verhaltensregeln zeigten. Neben Kulturunterschieden bezüglich der Internalisierung von Verhaltensregeln, Verhaltenssteuerung und inhibitorischer Kontrolle ergaben sich geschlechts- und kulturspezifische Zusammenhänge unter anderem zwischen inhibitorischer Kontrolle und Verhaltenssteuerung. Die Diskussion der Ergebnisse erfolgt daher insbesondere vor dem Hintergrund der Frage nach der Rolle kulturspezifischer Einstellungen zu Selbst-Umwelt-Beziehungen (z. B. Werthaltungen) und Sozialisationsbedingungen für die Entwicklung von Selbstregulation. Diesbezüglich wird auch erörtert, inwieweit theoretisch relevante Kontextvariablen Internalisierungsprozesse beziehungsweise Zusammenhänge zwischen inhibitorischer Kontrolle und Internalisierung beeinflussen. Darüber hinaus werden theoretische und methodische Implikationen der Verwendung qualitativer (d. h. Beobachtung) und quantitativer Verfahren (d. h. Fragebögen) für die Untersuchung der Entwicklung von Selbstregulation in zukünftigen Studien thematisiert.