8 auf dem Kongress der deutschen Gesellschaft fur Palliativmedizin 2010. 9 Das ist eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualitat nachhaltig beeintrachtigende Erkrankung. 10 Bundessozialgericht (BSG), Urt. v. 19.3.2002 – B 1 KR 37/00 R, Rdnr. 26 = Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2003, 460 (463). 11 BSG, Urt. v. 30.6.2006 – B 1 KR 5/09 R, Rdnr. 33. 262 Andre Bohmeier/Bjorn Schmitz-Luhn hochstrichterliche Rechtsprechung mit Verweis auf die Arzneimittelsicherheit in einschlagigen Entscheidungen an den hohen Evidenzanforderungen zum Beleg des notwendigen Handlungserfolges fest.12 Die Notwendigkeit eines einheitlichen Masstabes zeigt sich hier umso deutlicher, als die Anpassung der arzneimittelrechtlichen Evidenzmasstaben in den Fallen durchaus ublich ist, in denen eine systematische Erforschung einer Krankheit13 – ahnlich wie im palliativen Bereich – nicht moglich ist.14 Angesichts des Umstandes, dass mehr als die Halfte der Therapieempfehlungen auf den Off-Label-Use entfallen, kann der fehlende Masstab zur Bestimmung des Verhaltnis zwischen Bedurftigkeit und zumutbarem Risiko im Einzelfall den Ausschluss der Halfte der zur Verfugung stehenden palliativen Behandlungsmoglichkeiten bedeuten. 2. Divergenzen in der instanzgerichtlichen „Nikolaus-Rechtsprechung“ Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 6.12.2005 entschieden, dass unter den folgenden Voraussetzungen die generelle Zweckmasigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 12 Abs. 1 SGB V) einer Behandlungsmethode ausnahmsweise bejaht werden muss, auch wenn diese an sich von der Versorgung ausgeschlossen ist: (1.) Es muss eine lebensbedrohliche oder regelmasig todlich verlaufende Erkrankung vorliegen; (2.) bezuglich dieser Krankheit darf eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfugung stehen, und (3.) hinsichtlich der beim Versicherten arztlich angewandten Behandlung muss eine auf Indizien gestutzte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spurbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehen.15 Alle drei genannten Voraussetzungen bergen unterschiedliche Dimensionen von Wertentscheidungen: Wann ist eine Krankheit lebensbedrohlich – wenn der Tod in einer Woche eintritt, oder erst in zwei, funf oder zehn Jahren?16 Schliest eine dem medizinischen Standard entsprechende alternative Behandlungsmethode den Anspruch aus, auch wenn diese sehr viel einschneidender fur den Patienten ist oder mit starken Nebenwirkungen einhergeht?17 Welcher Grad der Evidenz ist notwendig fur eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung? Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben mussen auf einfachgesetzlicher Ebene – im Streitfall durch die Instanzgerichte – umgesetzt werden. Die fehlende abstimmende Gewichtung der hier betroffenen Wertedimensionen der Bedurftigkeit, des Risikos und der Erfolgsaussicht fuhrt in bestimmten Fallen zu einer uneinheitlichen instanzgerichtlichen Rechtsprechung, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen: 12 BSG, Urt. v. 13.10.2010 – B 6 KA 48/09 R, Rdnrn. 16 ff. 13 Sogenannte „Seltenheitsfalle“. 14 BSG, Urt. v. 19.10.2004 – B 1 KR 27/02 R. 15 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschl. v. 6.12.2005 – 1 BvR 347/98 –, Entscheidungen des BVerfG (BVerfGE) 115, 25, 49 f. = Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2006, 891 ff., sog. „Nikolaus-Beschluss“. 16 BSG, Urt. v. 27.3.2007 – B 1 KR 17/06 R – Polyglobin I, Rdnr. 23. 17 BSG, Urt. v. 4.4.2006 – B 1 KR 12/05 R, Rdnr. 35. Divergierende Prinzipien in der GKV 263 Hinsichtlich des notwendigen Schweregrades wird in der Rechtsprechung die Frage kontrovers beurteilt, ob eine verfassungskonforme Auslegung erst bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung vorzunehmen ist oder bereits dann, wenn dem Patienten schwere Gesundheitsschaden drohen. Das Bundessozialgericht (BSG) legt dieses Kriterium ausnahmslos restriktiv aus. Danach ist der notwendige Schweregrad erst im Falle einer lebensbedrohlichen, regelmasig todlich verlaufenden Krankheit oder einer wertungsmasig vergleichbaren Erkrankung erreicht. Einer Erkrankung mit todlichen Verlauf vergleichbar zu bewerten sind Erkrankungen, in deren Folge der Verlust eines wichtigen Sinnes, Organs oder einer herausgehobenen Korperfunktion droht. Mit der Begrundung, dass jede unbehandelte Erkrankung irgendwann auch lebensbedrohliche Auswirkungen haben konne, muss nach Auffassung des BSG zudem eine notstandsahnliche Situation vorliegen. Diese ist durch den drohenden zeitnahen Eintritt der Krankheitsfolgen gepragt. Demgegenuber stellte das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg ohne weitere Begrundung den notwendigen Schweregrad auch bei einer zwar die Lebensqualitat auf Dauer nachhaltig beeintrachtigenden Erkrankung fest (GardnerDiamond-Syndrom), bei der jedoch weder zeitnahe Lebensgefahr, noch der Verlust einer wichtigen Korperfunktion oder eines wichtigen Organs drohte.18 Dies erkannte ausdrucklich auch das LSG Niedersachsen-Bremen im Fall von Multipler Sklerose an. Danach sei es mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) nicht vereinbar, im Falle einer drohenden nachhaltigen und gravierenden Beeintrachtigung der korperlichen Unversehrtheit Erfolg versprechende rechtzeitige Behandlungen zu verweigern und Beeintrachtigungen in Kauf zu nehmen, wohl wissend, dass sie spater nicht mehr zu beheben sind. In diesen Fallen nutze es dem Versicherten nichts, wenn er spater – in einer notstandsahnlichen Situation, also kurz vor dem Tod – behandelt wird.19 Dementgegen lehnte das Hessische LSG den notwendigen Schweregrad im Falle einer Leberzirrhose und hepatischer Encephalopathie ab. Die Leberzirrhose verlaufe seit 25 Jahren stabil und die Encephalopathie sei noch nicht massiv ausgepragt, so dass es an der notwendigen notstandsahnlichen Situation im Augenblick fehle.20 Ebenso problematisch ist die Bewertung des hinreichenden Schweregrades im Falle multimorbider Patienten. Diesbezuglich hat das BSG eine Weiterentwicklung des Schweregradkriteriums fur den Fall vorgenommen, dass zur Bekampfung einer lebensgefahrlichen Krankheit zwingend erst Masnahmen gegen eine andere, nicht lebensgefahrliche sekundare Erkrankung ergriffen werden mussen. Im konkreten Fall litt der Patient an Krebs und einem sekundaren Antikorpermangelsyndrom, welches eine Chemotherapie unmoglich machte. In dieser Konstellation ist eine verfassungskonforme Auslegung nach Ansicht des BSG zulassig, wenn die Voraussetzungen eines zulassigen Off-Label-Use entsprechend erfullt sind und fur die sekundare, nicht lebensbedrohliche Erkrankung keine anerkannten Behandlungsmoglichkeiten zur Verfugung stehen.21 Der einer Entscheidung des Sozialge18 Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.4.2010 – L 1 KR 68/08, Rdnr. 47. 19 LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 7.3.2011 – L 4 KR 48/11 B ER, Rdnr. 25. 20 Hessisches LSG, Urt. v. 26.3.2009 – L 8 KR 200/07, Rdnrn. 29, 32. 21 BSG, Neue Zeitschrift fur Sozialrecht (NZS) 2011, 592, Rdnr. 47. 264 Andre Bohmeier/Bjorn Schmitz-Luhn richts (SG) Dresden zu Grunde liegende Sachverhalt unterschied sich insofern, als der Patient unter zwei verschiedenen Krankheitsbildern litt, die zwar nicht fur sich allein, aber zusammen betrachtet durchaus lebensgefahrliche Folgen zeitigen konnen. Das Gericht entschied, dass zur Beurteilung des Schweregrades nur auf die Erkrankung abzustellen ist, die mit der begehrten Leistung bekampft werden soll.22 Anders hat diese Situation wiederum das Bayrische LSG bewertet, welches uber eine begehrte Apheresebehandlung zur Senkung einer isolierten Lipid(a)Erhohung (Hypercholesterinamie) des an lebensbedrohlicher koronaren Herzerkrankung leidenden Klagers zu befinden hatte. Das Gericht hat entschieden, dass es der Annahme einer lebensbedrohlichen Situation nicht entgegenstehe, dass die gegenstandliche Therapie nicht unmittelbar auf die koronare Herzerkrankung einwirkt, da Hypercholesterinamie ein bedeutsamer Faktor im Gesamtrisikoprofil cardiovaskularer Erkrankungen sei.23