Hintergrund Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der wachsenden Zahl chronischer Erkrankungen sowie der Verpflichtung, die zunehmend knapper werdenden Ressourcen angemessen einzusetzen, gewinnt die Vorbeugung von schweren Gesundheitseinschränkungen und Pflegebedürftigkeit im Alter an Bedeutung. Das Spektrum der Maßnahmen, die zur Verhinderung von Stürzen und den daraus resultierenden Verletzungen eingesetzt werden, ist breit. Es reicht von Testverfahren zur Erkennung sturzgefährdeter Personen bis zu komplexen Interventionen zur Beseitigung erkannter Risikofaktoren. Die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit vieler empfohlener Maßnahmen sind dabei unklar. Vor diesem Hintergrund soll die im vorliegenden Health Technology Assessment (HTA) durchgeführte Literaturanalyse dazu beitragen, über einen rationalen und effizienten Einsatz von Ressourcen zu entscheiden. Fragestellungen Die zentrale Berichtsfragestellung befasst sich mit den Effekten sowohl von Einzelmaßnahmen als auch von komplexen Programmen zur Sturzprophylaxe auf die Sturzhäufigkeit und die Häufigkeit sturzassoziierter Verletzungen bei älteren (> 60 Jahre), in ihrer häuslichen Wohnumgebung oder im Pflegeheim lebenden Menschen. Weitere Fragestellungen behandeln die Kosteneffektivität sturzprophylaktischer Maßnahmen sowie deren ethische, soziale und juristische Implikationen. Methodik Die systematische Literaturrecherche umfasst 31 Datenbanken und den Suchzeitraum von Januar 2003 bis Januar 2010. Die Bewertung der Effektivität von Interventionen wird ausschließlich auf der Grundlage von randomisierten kontrollierten Studien (RCT) vorgenommen, für die Untersuchung der Effektivität diagnostischer Strategien werden außerdem prospektive Studien zur diagnostischen Genauigkeit berücksichtigt. Zur Beantwortung der ethischen, sozialen und juristischen Fragen werden inhaltlich relevante Studien unabhängig vom Design, juristische Dokumente und Kommentare sowie Positionspapiere herangezogen. Die Auswahl und kritische Bewertung relevanter Studien sowie die Datenextraktion erfolgen durch zwei unabhängige Bewerter. Auf die Erstellung von Metaanalysen wird aufgrund der Heterogenität des vorliegenden Studienmaterials verzichtet. Ergebnisse Von 12.000 in den Recherchen identifizierten Referenzen entsprechen 184 den Einschlusskriterien, wobei die Validität ihrer Ergebnisse in unterschiedlichem Maß durch verschiedene verzerrende Faktoren (Biases) gefährdet ist. Der klinische Informationsgewinn durch die Anwendung von Tests oder Parametern zur Bestimmung des Sturzrisikos scheint gering zu sein, sofern es allein um die Identifizierung sturzgefährdeter Personen geht. Positive Effekte von Trainingsangeboten sind für rüstige Senioren zu erwarten, für eher gebrechliche Zielgruppen werden auch gegenteilige Effekte berichtet. Studien zu wohnraumbezogenen Maßnahmen geben Hinweise auf eine mögliche sturzprophylaktische Effektivität bei älteren Menschen mit vorbestehenden gesundheitlichen Einschränkungen. Vor dem Hintergrund uneinheitlicher Studienergebnisse bzw. einer quantitativ oder qualitativ wenig belastbaren Datenlage muss die Effektivität von visuskorrigierenden Maßnahmen, Anpassung einer psychotropen Medikation, Vitamin-D-Präparaten, Nahrungsergänzungsmitteln, psychologischen Interventionen, Schulung von Umgebungspersonal, multiplen und multifaktoriellen Programmen sowie Hüftprotektoren derzeit als unklar bezeichnet werden. Die Ergebnisse ökonomischer Begleitevaluationen einzelner Studien bzw. ökonomischer Modellierungen liefern keine übergreifenden, im bundesdeutschen Kontext verwertbaren Ergebnisse zum Kosten-Nutzen-Verhältnis sturzprophylaktischer Interventionen. Aus ethischer Sicht dominieren Befunde, die ein ambivalentes Verhältnis älterer Menschen zum Sturzrisiko und zur Notwendigkeit der Prävention zeigen. Die Bereitschaft zur Sturzprophylaxe hängt von diversen personenbezogenen Faktoren ab, aber auch von der Qualität der Information, Beratung und Entscheidungsfindung, dem Präventionsangebot selbst sowie von sozialen Einflüssen. Bei der Analyse der juristischen Publikationen kristallisieren sich drei Problembereiche heraus: die Unsicherheit des zu fordernden Standards in der Sturzprophylaxe, die Notwendigkeit, Charakteristika des Einzelfalls bei der Durchführung von sturzprophylaktischen Maßnahmen zu berücksichtigen und die Schwierigkeit, gleichzeitig das Recht der Betroffenen auf autonome Entscheidungsfindung und das auf körperliche Unversehrtheit zu wahren. Diskussion und Schlussfolgerungen Bei der Bewertung der Effektivität von sturzprophylaktischen Maßnahmen erschweren durch die Thematik begründete methodische Probleme (in erster Linie fehlende Verblindung) und die ausgeprägte klinische Heterogenität der Studien die Ergebnisinterpretation. Vor allem letztere lässt metaanalytische Ergebniszusammenfassungen nicht zu. Die gleichen Probleme wirken sich auf die Aussagekraft von Kosten-Nutzen-Betrachtungen aus. Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass verfügbare Empfehlungen zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen die aktuelle Evidenzlage teilweise unzureichend abbilden. Insbesondere die Abhängigkeit wahrscheinlicher Effekte von den Eigenschaften der Zielpopulation und den sonstigen Versorgungsbedingungen sollten bei der Generierung von Empfehlungen stärker berücksichtigt werden. Dies gilt auch für die unterschiedliche und durch viele Faktoren beeinflusste Bereitschaft, prophylaktische Maßnahmen in Anspruch zu nehmen und umzusetzen. Bei der Planung zukünftiger Studien ist auf eine hohe interne Validität und die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Kontext der Routineversorgung zu achten. Im gesundheitsökonomischen Bereich sind valide, auf den bundesdeutschen Kontext übertragbare Kostenschätzungen erforderlich., Schriftenreihe Health Technology Assessment (HTA) in der Bundesrepublik Deutschland; 116; ISSN 1861-8863