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Interventionen mussen darauf abzielen, eine unabhangige und sichere Lokomotion zu erhalten. Gelingt es, Frakturen und besonders Huftfrakturen zu verhindern oder hinauszuschieben, kann die Selbstandigkeit im Alltag langer aufrechterhalten werden. Da sich die Haufigkeit der sturz- und osteoporoseassoziierten Frakturen aus der Kombination von Knochenfestigkeit und Sturzhaufigkeit ergibt, mus neben dem Erhalt eines qualitativ und quantitativ ausreichenden Knochens auch die Beeinflussung der Sturzhaufigkeit bedacht werden.

Die Analyse der Sturzrisikofaktoren gibt den Weg an, auf dem die Anzahl der Sturze und der sturzbedingten Frakturen verringert werden kann. Die Logik der Frakturgenese (s. Abb. 3.1, Kap. 3) gelangt dabei zu 3 Gruppen von Ansatzpunkten: die Verbesserung der Knochenfestigkeit, die Verbesserung von Balance und Lokomotion und die Beeinflussung der Sturzmechanik.

Bisher wurden die Risikofaktoren fur Sturze diskutiert. Wichtiger noch sind die Risikofaktoren fur schwere und bleibende Sturzfolgen. Sowohl fur den Patienten als auch fur die Gesellschaft ist die huftnahe Fraktur die schwerwiegendste Sturzfolge.

Thema dieses Kapitels ist nicht die gesamte Diagnostik von Lokomotionsstorungen, sondern die Funktionsdiagnostik von altersassoziierten multifunktionellen Gehstorungen und der daraus resultierenden Sturzgefahr. Sicherlich sind die vorgestellten Untersuchungsverfahren auch geeignet, lokomotorische Storungen zu diagnostizieren, die auf eine einzelne dominierende Krankheit zuruckzufuhren sind. Dann bedarf es aber der Erganzung um krankheitsspezifische Faktoren. Es geht an dieser Stelle nicht um die Diagnostik der nosologischen Grundlagen. Dies ist Teil des ublichen medizinischen Wissens. Die hier vorgestellte lokomotorische Funktionsdiagnostik konzentriert sich auf die Untersuchung von Merkmalen, die beim heutigen Kenntnisstand als Voraussetzung von Sturzen gelten konnen. Dabei wird eine regulare Abklarung der zugrundeliegenden bzw. mitwirkenden Krankheiten vorausgesetzt. Wie die Arbeiten von Tinetti et al. aber belegt haben, bietet eine funktionsorientierte Untersuchung der Lokomotion eine notwendige Erganzung, um Gehstorungen und Sturzgefahr fruhzeitig zu erkennen und auch Masnahmen dagegen in ihrer Wirksamkeit beurteilen zu konnen (Tinetti 1986). Bei diesem Ansatz werden lokomotorische Leistungen, die einen Zusammenhang mit Alltagsleistungen aufweisen und Hinweis auf Sturzgefahr geben konnen, standardisiert und quantifizierend untersucht.

Die Datenlage zur Effektivitat von funktionell-ubenden Verfahren bei Gehstorungen, Sturzen und Huftfrakturen im Alter ist nicht einheitlich. Dies ist bei der Vielfalt der Probleme und Verfahren auch nicht zu erwarten, zumal die wissenschaftliche Aufmerksamkeit gegenuber dem Thema verhaltnismasig jung ist. Tideiksaar hat in seiner Monographie (Tideiksaar 1997) eine Ubersicht zusammengestellt, die belegt, das durch ubende Verfahren Lokomotion und Balance verbessert werden konnen. Wenn man in der medizinischen Literatur jedoch nach klarenden Studien zu speziellen funktionellubenden Masnahmen sucht, fallen schmerzliche Lucken auf. Es fehlen Studien, aus denen hervorgeht, gegen welche funktionellen Storungen einzelne genau definierte Masnahmen wirksam sind. In vielen Untersuchungen wird nicht genau spezifiziert, in welcher Form trainiert bzw. behandelt wurde. Es ist zweifellos schwierig, funktionell-ubende Verfahren wie Krankengymnastik oder Ergotherapie zu standardisieren. Es gibt beim einzelnen Patienten eine individuelle Fulle moglicher Problemkombinationen, und noch groser wird die Individualitat, wenn man die Reaktionen, Entscheidungen und Masnahmen der TherapeutInnen miteinbezieht. Therapeutische „Schulen“ oder Methoden (Bobath, PNF, Vojta etc.) kommen nicht aus der naturwissenschaftlich-experimentellen Tradition, sondern entstanden oft aus dem Lebenswerk und der Personlichkeit einzelner Therapeuten. Sie arbeiten viel mit der personlichen Erfahrung und Intuition, und versuchen die Kontinuitat der Methode durch intensive Lehrer-Schuler-Verhaltnisse zu etablieren.

Die epidemiologischen Daten konnen die grose Bedeutung von Gehstorungen, Sturzen und Huftfrakturen deutlich machen. Die Zahlen belegen den engen Zusammenhang zwischen Gehstorungen und Sturzen sowie zwischen Sturzen und Huftfrakturen. Es wird deutlich, das die Huftfraktur, ihr Bedingungsgefuge und ihre Folgen von katastrophaler Bedeutung fur den einzelnen und die Gesellschaft sind.

Der Mensch ist gekennzeichnet durch eine bipedale Lokomotion. Er geht aufrecht auf 2 Beinen, hat die Hande frei zum Gebrauch von Gegenstanden, die aufrechte und bewegliche Kopfhaltung garantiert einen Uberblick uber seine Umgebung. Gehen ist ganz einfach: Man setzt einen Fus vor den anderen und fallt dabei nicht um. Gehen besteht aus einem repetitiven, alternierenden Vorwartssetzen der Fuse, wobei abwechselnd beide Fuse oder ein Fus Bodenkontakt haben. Es ist die zentrale Form menschlicher Lokomotion. Die andere bipedale Fortbewegung ist das Laufen, bei dem abwechselnd ein Fus oder kein Fus Bodenkontakt haben. Beim Laufen ist der Mensch in bestimmten Phasen in der Luft (airborne), wenn man nicht wie im Schwabischen ublich den Begriff „laufen“ gleichbedeutend mit „gehen“ verwendet.

Sich ausdauernd, sicher und schnell bewegen zu konnen, ist Basis unserer Selbstandigkeit und damit unserer Lebensqualitat. Als Kinder mussen wir viele Millionen Schritte tun, um gehen zu lernen, und wenn wir ein hohes Alter erreichen, last diese Fahigkeit in den letzten Lebensjahren nach. Nicht umsonst verbinden wir Begriffe wie „Hinfalligkeit“ und „Gebrechlichkeit“ mit einem hohen Lebensalter. „Was geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen?“ lautet das Ratsel der Sphinx. Die Antwort ist der Mensch, der als Kind auf allen vieren krabbelt, im Mittag seines Lebens den fur den „Zweibeiner Mensch“ so typischen Gang hat, und der im Alter einen Stock zu Hilfe nehmen mus, weil Gehfahigkeit und Balance nachgelassen haben (Abb. 1.1).

Der Anstieg in der Haufigkeit der Huftfrakturen mit zunehmendem Alter wird in einem Grosteil der Literatur auf die altersassoziierte Verringerung der Knochenfestigkeit durch Osteoporose zuruckgefuhrt. „It has been recognized for over a century that hip fractures are a manifestation of osteoporosis in the elderly“, formulieren Melton et al. (1992).

Das Geriatrische Assessment ist der diagnostische Prozes, mit dem die gesundheitliche Situation des geriatrischen Patienten umfassend und multidimensional erfast und bewertet wird mit dem Ziel, weitere Interventionen zu planen, durchzufuhren und in ihrem Verlauf zu evaluieren. Neben der ublichen medizinischen Diagnostik liegt das Schwergewicht auf einer quantifizierenden Funktionsdiagnostik und der Berucksichtigung einer Langzeitperspektive.

Der atiologische Bezugsrahmen fur die rehabilitative Funktionsdiagnostik ist die Diagnose nach dem ICD-System. Die Diagnosen sind erforderlich, um im Zusammenhang mit Funktionszustand und Zeitablauf prognostische Aussagen zu machen. Sie sind auserdem erforderlich als Grundlage fur medizinische Behandlungen (Medikation, Operation, andere Interventionen).