Dürers schriftliches Hauptwerk'Vier Bücher von menschlicher Proportion', erschienen in Nürnberg 1528, gilt als eines der herausragenden Quellenwerke zur Kunst und Kunsttheorie der europäischen Renaissance. Es besitzt als Druckwerk zugleich die Priorität vor allen im Range vergleichbaren Arbeiten; denn die entsprechenden Schriften und Projekte Albertis und Leonardos blieben in ihrer Epoche ungedruckt. Während deren Schriften inzwischen (oft mehrfach) ediert und kommentiert vorliegen, verharrt Dürers theoretisches Opus magnum noch immer im Status von 1528. Außer bloßen Nachdrucken des Originals, sämtlich ohne Einführung, Übersicht und Kommentar, blieb das Werk vollständig ungesichtet und unerforscht. Die vorgelegte Ausgabe der Dürer'schen Proportionslehre umfasst, neben der Wiedergabe des Originals und einem buchkundlichen Kapitel, in der Hauptsache dessen Übertragung aus dem Frühneuhochdeutschen in heutiges Deutsch. Die im Zuge der Übertragung festgestellten Fehler und Unstimmigkeiten aller Art, die nötigen Wort- und Bedeutungsnachweise sowie alle möglichen den Text und die Illustrationen betreffenden Verständnisfragen sind im Rahmen der ‚Umdeutschung'dokumentiert. Neben die textliche Erschließung des Werks tritt seine inhaltliche Inspektion im anschließenden Kommentar, der Schritt für Schritt mit dem Katalog der insgesamt 150 Buchillustrationen verschränkt ist. Dabei geht es erstmals nicht vorrangig um die ‚Philosophie'der'Menschlichen Proportion'und deren antike, mittelalterliche und italienische Hintergründe, sondern um die werkimmanente Perspektive: Verständnisfragen, interne Bezüge, externe Beziehungen, Widersprüche, Probleme, auch sachliche Irrtümer. Neben einer zusammenfassenden Charakterisierung des Werks folgt eine Auswertung dessen, was der Autor das'Messen'nennt: der Messdaten, ihrer Gewinnung und ihrer Modalitäten. Die dabei zutage tretenden Resultate widersprechen der landläufigen Annahme, das Proportionswerk basiere auf empirischen Erhebungen an lebenden Menschen. Dürers Maße verdanken sich nach Lage der Dinge nicht dem Abmessen, sondern dem Zumessen und sind damit letztlich Ausdruck eines spekulativ schöpferischen Umgangs mit der menschlichen Figur. Der abschließende Blick auf die Wirkung des Werks hat zwischen seiner deutschen und lateinischen Version zu unterscheiden, die wesentlich verschiedene kulturelle Wege genommen haben, wobei seine Rezeption weit mehr den akademischen Proportions-Diskursen als der künstlerischen Praxis zugute kam. So war Dürers Proportionswerk zwar kaum den Künsten dienlich, wofür es gedacht war, wurde aber zur nachgerade unerschöpflichen Quelle und Richtschnur für anthropometrische Zwecke unterschiedlichster Art sowie zum Bild- und Ideengeber der darstellenden Anthropometrie: immer dort, wo es um Berücksichtigung menschlicher körperlicher Faktoren in Arbeitswelt, Industrie sowie Produkt- und Raumgestaltung geht.